Introspektion: Der Schlüssel zum Verständnis von Hochsensibilität

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(mbe-db141) Als Birgit Trappmann-Korr in einem Fernsehinterview des Westdeutschen Rundfunks 2009 gefragt wurde, woran man denn Hochsensibilität bei Menschen erkennen kann, meinte die Expertin damals: „Hochsensible sind Menschen mit einer ausgesprochenen Sensibilität…“. Dagegen ist natürlich wenig einzuwenden, die Frage ist nur, wie hilfreich diese Art von Erklärung ist.

Martin Bertsch, Netzwerkmitglied
Ein Beitrag von Martin Bertsch

Selbstverständlich hat Frau Trappmann-Korr damals auch erhellendere Ausführungen gemacht. Mit dem Buch „Der N-Faktor: Hochsensibilität und Persönlichkeit“ hat Frau Trappmann später sogar aus meiner Sicht einen sehr hilfreichen Beitrag zur Wesenhaftigkeit der Hochsensiblen gemacht. Diese Ansätze sind allerdings aus meiner Sicht viel zu vereinzelt.

Es fällt auf, dass viele Erklärungen in Bezug auf Hochsensibilität philosophisch gesehen wenig über das Niveau eines Zirkelschlusses hinausragen. So sagen etwa die vielzitierten Sensitivitätsfacetten von Homberg für sich genommen nicht viel aus:

  1. Höheres Bewusstsein von umweltbezogenen Feinheiten
  2. Tiefere Verarbeitung von sensorischen Informationen
  3. Stärkere emotionale Reaktivität
  4. Erhöhte Anfälligkeit für Überstimulation

Man kann das Phänomen der Hochsensibilität schlicht nicht aus sich heraus beschreiben, sondern es braucht meiner Ansicht nach einen Bezugsrahmen, der es erlaubt, das Phänomen auch von außen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Hochsensibilität als 5. Temperament

Eine eigentliche Temperamentenlehre ist in der modernen Persönlichkeitspsychologie verloren gegangen. Mit den Big Fife *) setzt man einzig auf weitgehend unabhängige messbare Persönlichkeitsanteile. Die Fragmentierung der menschlichen Seele hat aus meiner Sicht aber einen hohen Preis, wobei nicht nur, aber gerade der Laie letztlich die Übersicht verloren hat.

Wenn wir Hochsensibilität als Temperament verstehen, ist es naheliegend, die alte griechische Temperamenten-Lehre von Galenos heranzuziehen und sich zu fragen: Welches Temperament entspricht dem Typus des Hochsensiblen? Die Idee von Galenos ist, die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer je einem Temperament zuzuordnen. Dabei wurden in Anlehnung an die vermutlich schon im alten Ägypten verbreitete Säftelehre Melancholiker (Erde), Phlegmatiker (Wasser), Sanguiniker (Luft) und Choleriker (Feuer) als verschiedene Temperaments-Typen beschrieben.

Diese Temperamentenlehre spielte auch in der frühen Psychologie eine bedeutsame Rolle und prägte die Forschung von Alfred Adler und Ivan Pavlow. Ab den 1960-Jahren wurde sogar ein fünftes Temperament entdeckt, dass einige den introvertierten Sanguiniker, andere „Supine“ genannt haben.

Ab 2016 begann ich im Zusammenhang mit Hochsensitivität vom 5. Temperament zu sprechen und bezog mich auf die fünf Elemente-Lehre von Platon und Aristoteles. (vgl. fünf platonische Körper unten ***)).

Der Äther als Element und Grundlage der Hochsensibilität

Neben den vier Elementen, die schon vom griechischen Philosophen Empedokles definiert wurden, sprachen Platon und Aristoteles vom Äther, dem feinsten, nicht materiellen Stoff, der Quintessenz alles physischen Seins. Diese Lehre finden wir auch heute noch in der ayurvedischen Medizin oder der buddhistischen Lehre, wo die Leere das fünfte Element ist. Aither**)‚ bei den antiken Griechen bedeutete der obere Himmel, das Geistige.

Jutta Böttcher spricht bei Hochsensiblen davon, dass diese Menschen noch das Himmels-Gen in sich trügen. Eine treffende Metapher für die feingeistige aber auch verletzliche Art der Hochsensiblen.

Für einige Jahre war es bei mir selber ruhig um das Thema des 5. Temperamentes. Durch „Zufall“ wurde das Thema in den letzten Tagen bei mir wieder hochaktuell: Ich realisierte, dass das 5. Temperament der „Introspektor“ ist.

Der Hochsensitive als Introspektor

Das Bild der fünf Temperamente stellt sich wie folgt dar:

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Das Spezielle am Temperament des Introspektors ist, dass die Aufmerksamkeit nach innen gerichtet ist, währenddessen die anderen Temperamente nach außen schauen und die Außen-Welt verarbeiten. Das Temperament des Introspektors ist ausgewogen: grau enthält alles, bekennt aber keine Farbe. Man ist sozusagen alles und nichts, kann sich in alles hineinversetzen, ohne sich aber näher mit dem zu identifizieren, was man gegen außen hin darstellt. Insofern ist das nach innen gerichtete Temperament nicht introvertiert: Auch der Introvertierte setzt sich mit der Welt auseinander, vor allem denkend.

Hochsensible können extravertiert oder introvertiert sein, es geht hier aber nur um Tendenzen. Der Hochsensible ist nach mir an sich zentrovertiert oder ambivertiert.

Die Darstellung des Introspektors erklärt auch, warum sich Hochsensible oder Hochsensitive meist anders fühlen als andere. Die vier nach außengerichteten Typen haben nämlich die Blickrichtung gemeinsam. Es ist auch der Konflikt mit der modernen Welt klar ersichtlich, denn in unserer industriellen und medialen Welt zählen äußere und nicht innere Werte.

Ich habe immer wieder erwähnt, dass Hochsensitive eine erhöhte Weltwahrnehmung und eine verminderte Selbstwahrnehmung haben. Ein scheinbarer Widerspruch mit dem hier dargestellten. Doch diese Problematik der erhöhten Weltwahrnehmung ist womöglich gar nicht originär im Naturell des Hochsensitiven enthalten, sondern ist eher die defiziente (kompensatorische) Form des fünften Temperamentes.

Die vielbesagte Hochsensibilität wäre, so der radikale Umkehrschluss, gar nicht das zentrale Merkmal der Hochsensiblen, sondern eine Folge von Verletzung und entsprechenden Schutzmechanismen. Sie kommen dann zum Tragen, wenn wir die eigentliche Gabe der Introspektion verleugnen und versuchen, den anderen Temperamenten in der Sicht nach außen nachzueifern. Die Hinwendung nach innen, den Hochsensiblen in Form von Selbstliebe, Selbst-Achtsamkeit, Selbst-Freundlichkeit etc. aufgetragen, wäre dann, auch eine Folge der radikalen Umdeutung, das eigentlich Wesenhafte des fünften Temperamentes und der Hochsensiblen.

Introspektion als Eintrittstor zur Spiritualität und Selbstverwirklichung

Die Introspektion ist für mich in der heutigen Welt vielleicht die am meisten benötigte Fähigkeit, um die Krise der Gegenwart als Mensch zu bewältigen. Zunehmende Feindbilder, Krieg, Zerfall der Demokratien, Klimakrise, das Auseinanderdriften von Reich und Arm. Die ökologischen und sozialen Krisen-Szenarien verlangen Besinnung und das Entwickeln von neuen Werten. Hier sehe ich auch perspektivisch eine Mission der hochsensitiven Menschen: Eine Umkehr und Rettung bedeuten auch eine Innenkehr und das Schaffen von spirituellen anstatt materiellen Werten.

Die Entschlüsselung der Hochsensibilität ist die Grundlage für ein adäquates Verständnis und Handeln von Hochsensitiven. Es geht um das aktive und kreative Gestalten dieser Wende im Leben des Einzelnen und der Menschheit in einer kritischen Zeit.

Martin Bertsch, Coach und Netzwerkmitglied für 3011 Bern (CH), www.visionsschmiede.ch, www.netzwerk-hsp.ch

Quellenangaben:
*) https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/big-five-persoenlichkeitsfaktoren/2360
**)  https://griechische-mythologie.fandom.com/wiki/Aither
***)  https://www.spektrum.de/kolumne/die-fuenf-platonischen-koerper-und-die-eulersche-polyederformel/2075364


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