Hochsensitiv – Soll ich mich im Job outen?

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(fch-b03) Ganz normal, nichts Besonderes, hochsensitiv zu sein. Oder?

Fernando S. Christiano, Netzwerkmitglied
Ein Beitrag von Fernando S. Christiano

Hochsensitivität macht deine Persönlichkeit aus, aber es macht dich nicht zu einem Menschen, der mit Samthandschuhen angefasst werden will.

Oder willst du das?

So kommt der Tag, an dem du dich fragst, soll ich mein Arbeitsumfeld einweihen, dass ich hochsensitiv bin? Soll ich ihnen sagen, was in mir vorgeht, was mich innerlich beschäftigt? Das könnte doch die Zusammenarbeit bereichern. Deine ureigene Art würde auf mehr Verständnis stoßen.

Da kommt mir gerade die Geschichte von Fiona in den Sinn:

Sie ist knappe 30 Jahre alt und hochsensitiv. In ihrem Job fühlt sie sich recht wohl. Sie ist bei allen beliebt, vor allem bei ihren Vorgesetzten. In letzter Zeit hat sie jedoch hie und da aufgemuckt, nicht mehr alles geschluckt. Seit sie sich mit ihrer Hochsensitivität auseinandersetzt, kommt sie ihrem Grundwesen immer mehr auf die Spur.

Inzwischen ist sie nicht mehr so pflegeleicht, wie sie einmal war. Fiona merkt, dass ihre Arbeitslast um einiges höher ist als die ihrer Arbeitskollegen. Einerseits ist das ein Lavendel für ihren Selbstwert. Es tut ihr innerlich gut. Aber sie hat immer häufiger den Eindruck, dass einige ihrer Arbeitskollegen eine eher ruhige Kugel schieben.

Da ist sie schon anders.

Was sie in die Hand nimmt, wird mit Elan, Fleiß und vielen guten Ideen erledigt. Einen Null-acht-fünfzehn-Job zu machen widerstrebte Fiona schon seit jeher. Sie ist einfach nicht gebaut für halbfertige Sachen. Das widerstrebt ihr zutiefst.

Ihre Chefs sehen das. Sie schätzen es, wenn sie ihr eine Aufgabe delegieren können. Dann sind sie sicher, dass es so gemacht wird, wie sie es erwarten, mit hoher Zuverlässigkeit und auf die Zeit, die abgemacht wurde. Seit einigen Monaten fällt es Fiona auf, dass da etwas auf ihrem Buckel ausgetragen wird.

Sie kann es nicht einfach so hinnehmen, dass ihre Aufgabenlast mächtiger ist als die der anderen. Es macht ihr zusehends zu schaffen. Etwas in ihrem Inneren regt sich. Sie merkt, dass sie ein wenig bockig wird, wenn ihre Chefs mit Arbeit aufkreuzen.

Insgesamt stört das die Zusammenarbeit, ihren Arbeitsfrieden, ihren Flow. Und das ermüdet auf Zeit. So ertappt sie sich, dass sie immer öfters launisch zur Arbeit kommt. Es ist einfach nicht mehr so wie früher. Fiona denkt darüber nach, dass sie möglicherweise nicht am richtigen Ort ist.

Inzwischen merken die Kolleginnen und Kollegen bei der Arbeit, dass sie von ihren Chefs bevorzugt behandelt wird. Sie hat mehr Freiheiten als andere. Sie wird um Rat gefragt, wenn etwas Spezielles ansteht. Das führt dazu, dass sie von ihren Kollegen immer häufiger gemieden wird, und ihre Kolleginnen nehmen sie nicht mehr mit zum Mittagessen.

Langsam fallen perfide Sprüche, die sie verletzen und die sie oft sprachlos zurücklassen. Erste Mobbing-Tendenzen sprießen im Alltag und machen die Sache nicht einfacher.

So können wir es verstehen, dass Fiona sich mit dem Gedanken auseinandersetzt, dass sie ihre Hochsensitivität publik macht – vielleicht führt das zu mehr Verständnis bei den Chefs und bei den Kollegen.

Hochsensitive Menschen sind immer noch recht dünn gesät, etwa 15 Prozent sind hochsensibel

Tendenz zunehmend. Aber im Arbeitsumfeld ist das zurzeit noch gar kein Thema. Wer kennt diese Thematik schon?

Du kannst dir ausmalen, was bei Fiona dann passiert, wenn sie sich outet. Sie hätte sich damit einen Stempel verpasst – ein eigenes Branding, von dem sie nur noch schwer wieder wegkommt.

Sowohl die Chefs wie auch die Kolleginnen und Kollegen würden sie mit diesem Stempel sehen, nicht mehr als wertvolle und zuverlässige Mitarbeiterin. Eher als Mensch, der eine Spezialbehandlung braucht. Und das ist in den meisten Fällen ein Grund für noch mehr Ablehnung und weitere Spannungen.

Deshalb outet sich Fiona nicht als HSP!

Zwei Coachingsessions später geht sie aber wieder mit erhobenem Kopf zur Arbeit. Sie hat gelernt, sich abzugrenzen, sich einzubringen, ohne sich den Stempel der Hochsensitivität aufzudrücken.

Es ist ihr gelungen, mit einem gesteigerten Selbstwert und einem Gefühl von “Normal sein” zu ihrem Bedürfnis zu stehen, sich für sich einzusetzen und das auf eine sehr kooperative und natürliche Art.

Da hat sie einen großen Entwicklungsschritt geschafft. Gedanken im falschen Job zu sein, sind damit wieder weit in den Hintergrund getreten und kaum mehr spürbar.

Was denkst du? Würdest Du Dich outen oder eher nicht?

Fernando S. Christian, Coach und LifeDesigner, www.lifedesign.studio, Netzwerkmitglied für 1588 Cudrefin (CH)


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Ein Kommentar

  1. Ich habe mich während meiner Tätigkeit nach viele Jahren in einem Team vor einigen Kolleginnen geoutet, nicht vor allen, aber vor denen, mit denen ich eng zusammenarbeitete. Das hat mir und der Atmosphäre gut getan. Plötzlich konnten sie es akzeptieren, wenn ich aus Überlastung eine Pause benötigte, wenn mir Dinge zuviel wurden, wenn ich plötzlich mit Sonnenbrille im Zimmer saß. Niemand hat mich deswegen mit Samthandschuhen angefasst, aber es war plötzlich klar, dass mein Verhalten nichts mit ihnen zu tun hatte, sondern nur mit mir selbst. Für mich hat sich dadurch alles deutlich entspannt. Auch heute (ich bin in Pension) überlege ich genau, wem gegenüber ich mich oute und bei wem nicht. Letztere Personen werden dann auch meist keine guten Freunde. Ich fahre damit gut. Mir geht es deutlich besser als vorher. Grundsätzlich: Anderen zu sagen, wie es einem geht und wie man sich fühlt, hat oft zur Folge, dass man auch in seinen anderen Äußerungen ernster genommen wird, und auch in seinen Stärken und in seinen Schwächen.
    Ist kein Verständnis sichtbar, ist es wirklich an der Zeit, zu überlegen, ob es der richtige Arbeitsplatz ist.

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