Hochsensible und ihre Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz

(Von Sandra Hüttenrauch) ♥ ♥ ♥ Ambiguitätstoleranz – was versteht man darunter und was bedeutet sie für hochsensible Menschen?
Was ist Ambiguitätstoleranz?
Unter Ambiguitätstoleranz versteht man ganz allgemein die Fähigkeit, in seinem Innenleben Widersprüche, Mehr- und Doppeldeutigkeiten auszuhalten. Dabei geht es nicht nur um ein „leidvolles Aushalten“, sondern darum, den Mehrwert der Vielschichtigkeit zu erkennen und zu schätzen.
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Ambiguitaetstoleranz
Hochsensible fühlen sich tendenziell wohler, wenn sie Eindeutigkeit und Stimmigkeit in ihrem Leben wahrnehmen.
- Wie gehen sie aber damit um, wenn Widersprüche auf sie zukommen?
- Können sie auch etwas „stehen lassen“, das sie nicht verstehen?
- Besitzen sie die Fähigkeit, Andersartigkeiten zu tolerieren oder werfen diese sie komplett aus der Bahn?
- Wie steht es um ihre eigenen inneren Dissonanzen?
Im folgenden Artikel möchte ich diesen Fragen nachgehen.
Hochsensibel denken komplex
Hochsensible lieben kognitive Herausforderungen und Mehrschichtigkeiten. Sie wollen den Dingen auf den Grund gehen. Platte Vorurteile und oberflächliche stereotypische Einstellungen, beispielsweise gegenüber bestimmten Minderheiten, wie Homo- und Transsexuellen, politischen Parteien, ethnischen Minderheiten oder religiösen und spirituellen Gruppierungen, sind Hochsensiblen eher fremd.
Hochsensible sehen den Menschen als Ganzes, im Kontext seiner Biographie.
Dabei schauen sie tiefer. Sie fühlen sich ein und wollen verstehen, warum Menschen so sind, wie sie sind. Komplexe Zusammenhänge und ungewöhnlichen Lebensformen üben eine gewisse Faszination auf sie aus. Hochsensible haben meist selbst erlebt, dass sie in der Gesellschaft anecken, weil sie anders sind. Auch ihr Lebensweg war oft ungerade. Daher können sie Menschen verstehen, denen es ähnlich geht – aus welchen Gründen auch immer.
Seit meiner Schulzeit habe ich mich z. B. für Menschen mit psychischen Besonderheiten interessiert. So bin ich bis heute mit einer Schulfreundin in Kontakt, die unter Borderline leidet und sich immer wieder längere Zeit am Stück nicht meldet.
Zu meinem Freundeskreis zählen zudem Menschen, die mit depressiven Episoden in ihrem Leben kämpfen. Immer wieder bin ich fasziniert, wie sie ihr Leben trotz aller Herausforderungen meistern. Die Andersartigkeit verbindet mich mit ihnen, ohne dass ich dies in Worte fassen könnte.
Soziale Ambigutätstoleranz
Doch wie sieht es mit der Ambiguitätstoleranz in zwischenmenschlichen Beziehungen aus?
Hochsensible lieben es harmonisch.
Zwischenmenschliche Konflikte stressen sie enorm. Sie tun ziemlich viel, um diese Harmonie zu bewahren oder wiederherzustellen – manchmal zu viel. Denn nicht selten stellen sie in einer Überidentifikation mit dem anderen die eigenen Bedürfnisse und Wünsche hinten an, besonders wenn es sich um die eigenen Kinder, den Partner oder andere Familienmitglieder handelt.
Im Extremfall führt diese Anpassung und falsch verstandene „Liebe“ (welche sich in Opferbereitschaft äußert) zu dem Gefühl, sich selbst verloren zu haben.
Toxische, ausbeuterische und narzisstische Beziehungen wirken leider oft wie ein Magnet auf einfühlsame Menschen.
Wenn die andere Person auch noch gegen den eigenen Werteanspruch verstößt, indem sie z. B. lügt, übertreibt, Geheimnisse ausplaudert, lästert oder sich in anderer Weise illoyal verhält, dann führt das bei Hochsensiblen zu einer kognitiven Dissonanz, welche als äußert unangenehm erlebt wird.
Auch eine Partnerschaft mit einer nicht-hochsensiblen Person kann einen Hochsensiblen sehr herausfordern. Der neurotypische Partner geht meist lockerer mit „Wahrheiten“ um, ändert vielleicht öfter seine Meinung je nach Umständen, oder geht einfach nicht ganz so gewissenhaft ans Leben heran.
Beispiele wären, dass der Partner z. B. raucht, obwohl er/sie weiß, dass dies gesundheitsschädlich ist. Oder man hat sich vorgenommen, abzunehmen, isst dann aber doch wieder Schokolade.
Umweltschutz hat eigentlich eine hohe Priorität, doch dann bevorzugt man aus Bequemlichkeit oder aufgrund von Zeitmangel doch wieder das Auto, anstatt dem Fahrrad.
Die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung bekommt in diesen Fällen höhere Priorität, als einst langfristig gesetzte Ziele. Die Person erlebt verschiedene und widersprüchliche Emotionen (gleichzeitig z. B. Lustgefühl, Genuss, Unbehagen, Reue, Versagen), was zu innerer Zerrissenheit führt.
Natürlich gibt es auch sehr gewissenhafte neurotypische Menschen und Hochsensible, die bei Schokolade ebenfalls schwach werden.
Dennoch können diese und ähnliche Verhaltensweisen für Hochsensible viel schneller unstimmig, inkonsequent oder unecht wirken. Sie sind eben extrem gewissenhaft und extrem diszipliniert. Erleben sie innere Ambivalenz, führt dies dazu, dass sie schlecht abschalten können. Bei eigenen „Verstößen“ verfolgt sie ihr schlechtes Gewissen noch länger, manchmal Tage lang.
Verhält sich eine andere Person widersprüchlich, bohren sie beim Gegenüber nach und zermartern sich den Kopf, wie die ein und dieselbe Person heute so und morgen so reagieren kann.
Tipps zur Förderung sozialer Ambiguitätstoleranz
- Den anderen auch einmal „stehen lassen“, obwohl man ihn, seine Denkweise und sein Verhalten gerade nicht verstehen kann.
- Nicht sofort in einen Diskurs mit dem Gegenüber einsteigen, sondern sich die eigenen, auch verwirrenden Gedanken aufschreiben, Tagebuch führen, sich innerlich ordnen.
- Sich klarmachen, dass es unterschiedliche Sichten auf die Welt gibt, nicht alle Menschen so „ticken“, wie man selbst, die meisten „Nichthochsensiblen“ einen weiter gefassten Werteanspruch besitzen und dennoch keine schlechteren Menschen sind.
- Für sich selbst klären, inwieweit man Toleranz gegenüber anderen Werten zeigen kann und ab wann die Grenze zu ziehen ist. Z.B. kann ich mitgehen, wenn eine Person durch neue Einsichten seine Meinung ändert, nicht aber, wenn sie aktiv lügt.
- Die Lockerheit und Unbeschwertheit anderer nicht als Angriff, sondern als Einladung sehen, barmherziger mit sich selbst zu sein und den eigenen Perfektionsanspruch herunter zu schrauben.
Ungereimtheiten akzeptieren
Hochsensible verspüren auch oft einen Drang dazu, sich kognitiv, emotional und psychologisch weiterzubilden, sich in Themen zu vertiefen, die sie interessieren.
„Lebenslanges Lernen“ übt eine gewisse Faszination auf sie aus.
Dabei ist ihnen bewusst, dass es bei den meisten Themen zwei Seiten einer Medaille gibt und die Dinge nie so sind, wie sie erscheinen. Namhafte Wissenschaftler widersprechen sich. Zu ein und derselben Theorien gibt es unterschiedliche Erkenntnisse und auch die zeitliche Weiterentwicklung bringt neue Aspekte mit sich.
Selbst in hochsensiblen Menschen schlagen oft „zwei Herzen in einer Brust“. Entscheidungen zu treffen, fällt ihnen schwer, da sie für alle Optionen gute Argumente finden.
Hochsensible fühlen sich schnell überfordert und gleichzeitig gelangweilt.
Sie verspüren eine Sehnsucht nach Verbindung, wollen aber im gleichen Moment niemanden sehen. Sie wissen, dass ihnen die Natur guttut, haben aber manchmal nicht die Kraft das kuschelige Heim zu verlassen. Sie sind perfektionistisch, leiden jedoch unter dem damit verbundenen Stress.
Diese Leben in „Spannung“, „zwischen den Stühlen“ – es kann auf der einen Seite für Hochsensible zermürbend und verwirrend sein.
Es könnte aber auch eine Chance bergen, den eigenen Horizont zu erweitern, seinen „inneren Raum“ dehnbar und weiter werden zu lassen.
Und: Es könnte interessant werden! Denn wie bei einer Bootsfahrt, so wechseln sich auch im Leben ruhige und unruhigere Gewässer ab. Strömungen und gefährliche Tiefen schaukeln das Boot manchmal hin und her. Und von anderen Ufern betrachtet sieht das Wasser ganz anders aus. Doch genauso erlernt und vertieft ein erfahrener Bootsmann seine Kompetenzen.
Mögest auch du dich in deiner sensiblen und feinfühligen Art auf die Ungereimtheiten des Lebens einlassen!
Mögest du barmherzig sein mit deinen eigenen inneren Widersprüchen und mit den Ungereimtheiten anderer.
Sandra Hüttenrauch, Psychologische Beraterin, Coach für Hochsensible, www.lebenskunst-huettenrauch.de, Netzwerkmitglied für 83313 Siegsdorf (D)