Hochsensibilität und Sexualität
(shü-db178) Sexualität – ein Grundbedürfnis (außer bei asexuell Orientierten) und zentrales Thema unseres Menschseins. Hochsensible sind besonders feinfühlige und wahrnehmungstiefe Persönlichkeiten. Dies hat auch Folgen für ihr Sexualitätserleben. Was sind aber nun typischen Auswirkungen der Hochsensibilität für die körperliche Intimität? Welche Herausforderungen und Chancen eröffnen sich bei Hochsensibilität im Bezug zur Sexualität?
Diesen Fragen widmet sich der folgende Artikel.
Dabei möchte ich betonen, dass Hochsensibilität so facettenreich ist, wie die Menschheit selbst.
Das hier ausgeführte mag daher nicht auf alle, wohl aber auf viele Hochsensible zutreffen. Das umfassende Thema „Sexualität“ wird hier nur angerissen, kann aber nicht in aller Ausführlichkeit abgehandelt werden.
Sexualität – Ausdruck von Seelenverbundenheit
Zum einen stellt es für Hochsensible bereits eine Herausforderung dar, einen potentiellen (Sexual-)Partner kennenzulernen.
Ein hoher Prozentsatz der Hochsensiblen ist Single.
Haben sie einen Partner gefunden, der sie in Ihrer Besonderheit versteht, annimmt und liebt, geht es meist nicht nur um die körperliche Bedürfnisbefriedigung. Vielmehr haben sie den Anspruch, Sexualität als Ausdruck tiefer Seelenverbundenheit zu leben. Die Vorstellung: In der Vereinigung der Körper vereinen sich gleichzeitig die Seelen der Geliebten. Sexualität wird zum „Klebstoff“ der Beziehung.
Findet körperliche Intimität ohne seelische Intimität (d.h. ohne echter Liebe, Vertrauen, Treue und Transparenz) statt, empfinden besonders Hochsensible dies als unstimmig und unecht.
Sex ist dann leer, unbedeutend, anstrengend, leistungsorientiert und zur Sportnummer mutiert. Die innerste Sehnsucht bleibt unerfüllt. Einen vorschnellen sexuellen Kontakt bereuen sie mit großer Wahrscheinlichkeit hinterher, da sie immer auch ihr Herz verschenkt haben. Als „Herzmenschen“ leiden sie unter zerbrochenen Sexualbeziehungen sehr stark und langanhaltend.
Da Hochsensible meist mit gesunder Grenzsetzung herausgefordert sind, besteht hier die Gefahr einer symbiotischen Verschmelzung, die zu ungesunder Abhängigkeit in der Beziehung führen kann. Wird mit einem Partner regelmäßig Sexualität gelebt, kann dies dazu führen, dass eine ansonsten destruktive Beziehung nur schwer auflösbar wird.
Kleine Störungen – große Wirkung
Besonders hochsensitive Menschen werden manchmal durch scheinbare Kleinigkeiten und Ablenkbarkeiten in ihrer sexuellen Erregbarkeit gestört:
- Riecht der Partner unangenehm nach Schweiß?
- Ist das Deo/Parfum nicht nach seinem Geschmack?
- Hat er Mundgeruch?
- Kratzt der Bart?
- Klingelt das Telefon?
- Sind vielleicht die Kinder im Haus?
- Besteht Zeitdruck, da noch ein Termin oder Besuch ansteht?
- Geht der Partner zu schnell vor?
- Macht er eine mechanische Bewegung oder einen Kommentar, der als unstimmig erlebt wird?
- Ist er mit den Gedanken wo anders?
All dies kann nicht einfach ausgeblendet werden. Vielmehr führt es zur Anfälligkeit der sexuellen Lust oder erstickt diese im Keim.
Stress, der Lustkiller Nummer eins
Auch Stress ist ein Faktor, der die Lust auf Sex verhindert.
Hochsensiblen gelingt das „Umschalten“ von einer stressigen Zeit hin zu Entspannung und Loslassen in der Sexualität vermutlich schwerer, als neurotypischen Menschen.
Wahrscheinlich liegt hier auch ein Unterschied in den Geschlechtern vor. Dennoch ist allen Hochsensiblen gemeinsam, dass sie länger brauchen um ihr Nervensystem zu regulieren und sich im Stresstoleranzfenster einzupendeln. Es ist notwendig, die Gedankenkreisel und To-Do-Listen abzuschalten, um ganz im Körper, ganz im Augenblick anzukommen: Fühlend, atmend, bewegend, berührend.
Denn erst im entspannten Zustand ist eine Öffnung für Sex möglich.
Zudem wollen sich, wie oben erwähnt, Hochsensible von Herzen verbunden fühlen, bevor sie sich dem Partner hingeben. Ging ein Streit voran, wurde die Atmosphäre durch Kritik, Nörgelei und Klagerei vergiftet, oder fand längere Zeit gar kein kommunikativer Austausch statt, wird es schwierig.
Eine Vorbereitung auf die Liebe, erhöht die Wahrscheinlichkeit auf körperliches Verlangen. Dies kann bedeuten, dass der hochsensible Partner sich zuerst Zeit für sich selbst nimmt, bewusst entspannt und die Tageserlebnisse verarbeitet. Verbindende, tiefgängige Gespräch mit dem Partner und unbeschwertes Flirten erhöhen das körperlichen Begehren.
Tendenz, eigene Bedürfnisse zurück zu stellen
Hochsensiblen fällt es nicht selten schwer, in Beziehungen ihre Bedürfnisse klar zu benennen und anzumelden. Dies gilt auch in der Sexualität. Sie wollen dem Partner gefallen, ihn glücklich machen und auch körperlich befriedigen. Gut gemeinte Zurückhaltung ist hier fehl am Platz.
Besonders für Hochsensible scheint es wichtig, eigene Grenzen zu wahren, klar zu benennen, was man im sexuellen Erleben wünscht und was nicht.
Unannehmlichkeiten oder Zufriedenheiten sollten nicht einfach hingenommen werden, um die Scheinharmonie zu wahren. Auch falsche Scham hat an dieser Stelle nichts zu suchen. Es ist wichtig, dem Partner offen zu kommunizieren, welche Wünsche und Sehnsüchte vorhanden sind, wie man berührt und verwöhnt werden möchte. Voraussetzung dafür ist die eigene Körperwahrnehmung.
Gesteigertes Körperempfinden
Hochsensible haben die besondere Fähigkeit einer sehr intensiven Körperwahrnehmung, falls diese nicht durch Traumata oder hohen Pornokonsum mit mechanischer Selbstbefriedigung verlernt bzw. desensibilisiert wurde.
Den eigenen Körper wahrzunehmen und zu spüren, das nehmen Hochsensible bereits in nichtsexuellen Bereichen wahr.
Sie besitzen z. B. auch ein gesteigertes Hunger- und Schmerzempfinden. Den achtsamen Umgang mit den eigenen körperlichen Ressourcen beherrschen sie meist schnell, da ein Burn-out sonst vorprogrammiert wäre. Hochsensible Frauen sind besonders sensibel, was ihren zyklischen Hormonhaushalt anbelangt. Sie spüren den Eisprung, welcher auch mit gesteigerten Wunsch nach Sex einhergeht oder sind besonders anfällig für hormonbedingte Stimmungsschwankungen wie PMS. Während der Periode erleben sie sich noch schneller erschöpft. Im Idealfall haben sie gelernt, mit und nicht gegen ihren Körper zu leben.
Sexuelle „Sprachen“ und Vorlieben
Die eigene Körperwahrnehmung ist auch die Voraussetzung, um den Körper des Partners mit allen Sinnen auf sich wirken zu lassen. Den Körper des anderen bewusst und präsent wahrzunehmen, sich in der Tiefe einzufühlen und so zu erspüren, was dem anderen gefällt, das ist eine besondere Grundbegabung Hochsensibler. Die Körpersprache zu lesen, wirkt sich äußerst positiv, erfüllend und befriedigend auf die Sexualität aus.
Hochsensible schätzen daher sexuelle Ausrichtungen, in denen langsame Achtsamkeit, bewusstes Wahrnehmen und Spüren im Vordergrund stehen.
Wie z. B. beim Slow Sex, dem undulierenden Modus oder im Tantra.
Sexuelle Praktiken, in denen es um Dominanz/Unterwerfung oder Schmerzempfinden (BDSM) geht, schrecken sie eher ab. Auch dynamische und schnelle, zielgerichtete Befriedigung, wie etwa bei einem Quickie, wird hochsensiblen Menschen dauerhaft nicht ausreichen. Hochsensible brauchen nach E. Aron weniger Abwechslung im Bett (außer bei High Sensation Seeker), da sie auch kleine sexuelle Reize sehr intensiv wahrnehmen.
Indirekte Andeutungen werden als erregender empfunden, als direkte Avancen.
Zu viele Reize, wie z.B. zusätzliche Musik während dem Sex, können schneller zur Überreizung führen und werden daher eher gemieden.
Besonderheiten bei der Verhütung
Geht es um Sexualität, spielt meist auch die Verhütung eine Rolle. Hochsensible machen sich mehr als neurotypische Menschen im Voraus Gedanken über Geschlechtskrankheiten oder Schwangerschaft (-sverhütung.) Da sie zudem oft sehr hohe ethische und moralische Werte vertreten, scheiden Verhütungsmethoden aus, welche ein potentiell befruchtetes Ei (und damit entstandenes Leben) vor der Einnistung hindern. Dazu zählen hormonelle Verhütungsmittel, aber auch die Kupferspirale/-kette.
Ein weiterer Nachteil hormoneller Verhütungsmittel ist, und das spüren hochsensible Frauen oft sehr deutlich, dass sie ihrem Körper nicht gut tun.
Sie steuern den Hormonhaushalt von außen auf unnatürliche Weise und können langfristige Nebenwirkungen verursachen.
Aber auch mechanische Verhütungsmittel (wie z.B. Kondom, Femidom, Diaphragma) werden von Hochsensiblen aufgrund ihrer hohen Körperwahrnehmung oft sehr stark gespürt. Dies kann z. B. dazu führen, dass ein Kondom als unangenehmes „Plastik“, störend oder sogar schmerzhaft wahrgenommen wird.
Auch die kurze Unterbrechung zur Anwendung des Verhütungsmittels kann Hochsensible aus der sexuellen Energie führen.
Symptothermale Methoden, wie etwa die natürliche Familienplanung (NFP) nach Rötzer, können bei guter Körperkenntnis und gewissenhafter Anwendung ein guter Weg sein. Diese Empfängnisregelung birgt aber auch Risiken einer Schwangerschaft (wie übrigens jede Verhütungsmethode) und ist aufwändig. Letztendlich muss jedes Paar hier im gemeinsamen Gespräch und Abwägen der Werte eine individuelle Lösung finden. Für manche ist nach abgeschlossenen Kinderwunsch auch eine operative Verhütungsmethode eine Lösung.
Quelle: Elaine N. Aron: Sind sie hochsensibel? S. 253. und Hochsensibilität in der Liebe. S. 337.
Ausgeprägte Phantasiewelt
Hochsensible Menschen verfügen über eine ausgeprägte, poetische Phantasiewelt. Sie „beamen“ sich mit Leichtigkeit in andere Welten, Zeiten, Rollen und Geschichten. Dies kann sowohl den Solosex, als auch den Paarsex beflügeln. Die Abwechslung spielt sich hier mehr im inneren, als im äußeren Erleben ab.
Findet der tatsächliche Sex vielleicht im weichen Bett stattfindet, befinden sich die Geliebten in ihrer Fantasie in den Dünen von Hawaii, in der Abgeschiedenheit eines parkenden Autos, im Dickicht des Waldes oder am knisternden Lagerfeuer. Stellungen oder Blickrichtungen scheinen in ihrer Variation unbegrenzt.
Die Vulva der Frau, gleicht dann einer Blüte, die sich öffnet und an der sich der Mann riechend erfreut.
Sie gleicht einer Burg, in welche der Ritter erobernd einzieht, Wärme, Geborgenheit und ein zu Hause findet. Gleich einer Bergwanderung, erklimmt man gemeinsam den Gipfel. Erotische Gefühle und Bilderwelten werden mit Hochsensiblen jedenfalls nicht zu kurz kommen. Das Hohelied der Bibel im Alten Testament, welches mit erotischen Bildern gefüllt ist, wurde meiner Meinung nach von einer sensiblen Person geschrieben.
Gesteigertes Genussempfinden
Nach Christina Herr haben Hochsensible auch ein gesteigertes Genussempfinden. Sie können (außer bei falscher Scham und geringen Selbstbewusstsein) sich der Sexualität mit großem Lustempfinden hingeben und alles um sich herum vergessen. Sexuell energetische Impulse nehmen sie sehr stark wahr. Sie spüren diese fließen, ebenso die Pole der Anziehung und des erotischen Begehrens.
Durch die intensive Körperwahrnehmung kann die erlebte Sexualität zu ekstatischen und gleichsam spirituellen Höhenflügen führen.
E. Aron wies in ihren Studien nach, dass Hochsensible „Sex als etwas Rätselhaftes oder Mächtiges“ erfahren. Sie finden in jedem Augenblick der intimen Begegnung seelische Erfüllung, nicht nur im Ergebnis eines leistungsorientierten Orgasmus. Tiefe, elektrisierende Gefühle können ohne Zielrichtung in multiple Ganzkörperorgasmen enden.
Hochsensible haben die Fähigkeit, sich besonders tief daran zu erfreuen und völlig im Erleben aufzugehen. Ihnen ist es dann scheinbar unmöglich abrupt in ihren Alltag zurück zu kehren. Überwältigende sexuelle Erlebnisse werden noch länger in ihnen nachklingen.
„Die Frau öffnet ihren Schoß, ihren Garten, wohl wissend, wie viel Schönheit, Sinnlichkeit und Kraft in ihm liegen. Sie gibt sich hin und lädt den Mann dazu ein, einzutreten.“ (Leila Bust)
Quellen:
– Christina Herr: Mit Feinsinn und Hochgefühl. S. 68.
– Elaine N. Aron: Hochsensibilität in der Liebe. S. 336.
Zusammenfassende Stärken Hochsensibler für erfüllte Sexualität
Um eine erfüllte Paarsexualität zu leben, sollte ein nichtsensibler Partner Verständnis für die hochsensiblen Eigenheiten mitbringen. Dies heißt zusammenfassend: Beide achten darauf, die seelische Verbindung durch tiefen Austausch zu fördern, Stress, Streit, ablenkenden Kleinigkeiten, unangenehmen Verhütungsmethoden zu vermeiden und in Übereinstimmung von Körper und Seele die gegenseitige Liebe auszudrücken. Zudem empfiehlt sich die Konzentration auf die genannten hochsensiblen Stärken:
- Sexualität als tiefe, seelische und emotionale Verbundenheit
- intensives Körperempfinden
- ausgeprägtes Genuss-und Lustempfinden,
- große Leidenschaftlichkeit
- facettenreiche Phantasiewelt
Eine herausragende und natürliche Stärke Hochsensibler ist der Zugang zum eigenen Körper. Jede Berührung geschieht um ihrer selbst willen, ohne Ziel und Zweck. Sie tauchen ein in ein achtsames Hier und Jetzt. Die höchsten Freuden menschlichen Daseins kosten sie in ihrer Gänze aus: Seelenverbundenheit, Hingabe und Erfüllung.
„Lust will Hingabe, statt Selbstbeherrschung.“ (Leila Bust)
Sandra Hüttenrauch, Psychologische Beraterin, Diplom Religonspädagogin, Coach für Hochsensible, www.lebenskunst-huettenrauch.de, Netzwerkmitglied für 83313 Siegsdorf (D)