Diagnose Hochsensibilität: Warum sie keine Krankheit ist
(fhü) Leider zeigt sich seit einiger Zeit der Trend, Hochsensibilität als psychische Störung einordnen zu wollen. Daher taucht der Begriff „Diagnose“ im Kontext mit hochsensiblen Menschen immer wieder auf. Es wird von Symptomen gesprochen und einige Strömungen setzen sich dafür ein, dass Hochsensibilität eine anerkannte Diagnose, z.B. im Bereich der Persönlichkeitsstörungen, werden soll.
Jedoch passt der Begriff „Diagnose“ nicht ganz im Zusammenhang mit Hochsensibilität, denn:
Hochsensibilität ist ein angeborenes Temperamentsmerkmal.
Es ist also kein Merkmal, das geprägt oder im Laufe des Lebens geformt wird, sondern mit dem wir geboren werden. Hochsensibilität ist Teil der Grundausstattung, mit der wir auf Welt kommen. Wie die Farbe meiner Haare oder ob ich eher ein introvertierter oder extravertierter Typ bin.
Hochsensibilität ist keine Krankheit.
Das ist eine wichtige Information, die leider oft untergeht bzw. anders suggeriert wird.
Andere wollen Hochsensibilität sogar neben Autismus und ADHS einreihen. Die Beweggründe kann ich durchaus nachvollziehen. Gegen Erkrankungen gibt es meist Medikamente auf Rezept oder von der Kasse bezahlte Therapieangebote (sofern man denn einen Platz bekommt).
So gibt es auch bei einigen diagnostizierten Störungen/Erkrankungen z. B. in der Schule einen Nachteilsausgleich oder andere Fördermöglichkeiten. Und nicht zuletzt wäre es ein Markt, der damit auch gutes Geld verdienen könnte. Denn Krankheit und die Angst davor sind ein gutes Geschäft. Wie gesagt, ich kann die Beweggründe nachvollziehen, jedoch bin ich nicht der gleichen Meinung.
Aus meiner Perspektive wäre es fatal, wenn Hochsensibilität als Erkrankung deklariert werden würde.
Hochsensible Menschen sind meist eh mit dem Gefühl des „Andersseins“, des „Nicht-Richtig-Seins“ und des „mit-mir-stimmt-etwas-nicht“ aufgewachsen.
Wenn sie sich dann auf den Weg machen, sich mit ihrer Hochsensibilität auseinanderzusetzen und zu versöhnen, lernen sie Schritt für Schritt, dass mit ihnen alles in Ordnung ist. Eine andere Empfindsamkeit und Wahrnehmung zu haben ist nicht besser oder schlechter. Es ist auch kein „Symptom“, das weg muss.
Natürlich können z. B. durch Unwissenheit über die persönlichen Trigger, Ausprägung und Typ der Hochsensibilität sowie permanente Reizüberflutung die Folge Stressfolgeerkrankungen oder depressive Verstimmungen, Burn-Out usw. sein. Die wiederum kann man behandeln.
Doch „gegen“ Hochsensibilität an sich gibt es kein Medikament.
(Es gibt einzelne Fälle, in denen Psychopharmaka gegen Reizüberflutung eingesetzt werden. Dies ist jedoch noch nicht näher erforscht und durch die Tatsache, dass Medikamente bei Hochsensiblen stärker oder anders wirken können, nicht zu empfehlen).
Was will ich damit sagen? Ich verstehe und sehe oft in meiner Praxis das große Bedürfnis von Hochsensiblen, die am Anfang ihrer Reise stehen, sich zuordnen zu wollen. Und der Wunsch, zu wissen, was los ist, ist nachvollziehbar und menschlich!
Doch braucht es dafür das Etikett „krank“?
Die Verantwortung bleibt, sich um sich selbst (und die Hochsensibilität) zu kümmern.
Was würde suggeriert werden, wenn Hochsensibilität eine Diagnose wäre?
Ein defizitäres Selbstbild würde verstärkt werden. Eine weitere Stigmatisierung als „unheilbar krank“ wäre die Folge. Die innere Haltung gegenüber des eigenen So-Seins würde noch negativer und die Hochsensibilität als etwas Schadhaftes abgelehnt. Man wäre nicht nur „zu sensibel“ sondern offiziell krank, kaputt und nicht richtig. Das anzustrebende Annehmen der eigenen Person würde noch schwieriger.
Viel besser wäre es doch, wenn Hochsensibilität nicht als Krankheit deklariert, sondern als eigenständiges (Temperaments-) Merkmal sichtbar und akzeptiert würde.
Welch Erleichterung wäre es, wenn in Kliniken z. B. bei der Medikation darauf eingegangen würde. Wie viel Leid, Neben- und Wechselwirkungen und natürlich auch Medikamente könnten eingespart werden?! Wie viele Fehldiagnosen würden nicht gestellt?
Welch Erleichterung wäre es, wenn Schulen ihre Lehrkräfte bzgl. Hochsensibilität sensibilisieren und nicht voreilig den Eltern eines überreizten Kindes eine AHDS-Diagnostik vorschlagen würden?
Welche Erleichterung wäre es, wenn in der Arbeitswelt Hochsensible nicht als Belastung, sondern als Bereicherung gesehen würden? Wenn im Betrieb etwas nicht stimmt (Rahmenbedingungen, Atmosphäre usw.) sind es zuerst die Hochsensiblen, die es wahrnehmen.
Wie schön wäre es, wenn Hochsensible dann nicht in die Krankheit rutschen, weil sie versuchen alles auszuhalten und sich anzupassen, sondern es versucht wird, etwas zu verändern, bevor die ganze Belegschaft leidet? (Natürlich gibt es einige positive Beispiele in den benannten Feldern, in denen das schon so ist. Doch das ist noch die Minderheit).
Das System kann nicht von heute auf morgen umgekrempelt werden, das ist klar. Doch was kann jede/r einzelne tun?
Machen Sie weiter. Gehen Sie Ihren Weg mit der Hochsensibilität, nicht gegen sie.
Schritt für Schritt. Setzen Sie sich mit Hochsensibilität grundsätzlich und mit Ihrer eigenen Hochsensibilität auseinander. Informieren Sie sich, wenn Sie das Gefühl haben, Ihre Schüler, Tageskinder, Klienten, Kollegen könnten vielleicht nicht Diagnose XY haben, sondern einfach hochsensibel sein.
Wenn Sie mögen, holen Sie sich Unterstützung und reflektieren Sie Ihre Biografie unter dem Aspekt der/Ihrer Hochsensibilität. Und helfen Sie mit, dass Hochsensibilität sichtbar(er) wird.
Und zwar auf eine gesunde, wertschätzende Art und Weise.
Denn Hochsensibilität kann eine unfassbare Kraftquelle sein, die Gutes für die Gemeinschaft und das eigene Leben hervorbringen kann.
Und es ist ein Thema, das uns alle angeht. Denn wenn wir ehrlich sind, begegnet uns Hochsensibilität überall dort, wo uns Menschen begegnen.
Im Kindergarten, in der Schule, auf der Arbeit, im Freundeskreis, in der Familie, beim Blick in den Spiegel.
Nein, Hochsensibilität ist keine Krankheit. Hochsensibilität ist das normale Leben.
Friederike Hüsken, Fachberaterin für Hochsensibilität, www.sensibelle.de, Netzwerkmitglied für 24113 Kiel (D)
Grundsätzlich ist niemand falsch. Auch Menschen mit psychischen Störungen oder Spektren nicht. Unsere Gesellschaft macht daraus ein Problem. Menschen, die nicht ins System passen, sind automatisch nicht richtig. Anstatt das System an die Menschen anzupassen, sollen die Menschen daran angepasst werden. Vielleicht bräuchten wir weniger Diagnosen und mehr Verständnis.