Erfahrungen einer hochsensiblen Mutter mit drei ADHS-Kindern

Erfahrungen einer hochsensiblen Mutter mit drei ADHS-Kindern, tobende Jungs

(Von Sandra Hüttenrauch) Hätte mir vor fünfzehn Jahren jemand gesagt, dass ich – als einfühlsame, geräuschempfindliche, ordnungsbewusste und hochsensible Frau – eines Tages eine Familie inklusive vier Personen mit ADHS manage, hätte ich es wohl nicht geglaubt. In diesem Beitrag möchte einige persönliche Erfahrungen einer hochsensiblen Mutter beschreiben.

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Sandra Hüttenrauch

Alles begann damit, dass ich einen Mann heiratete, der nach sieben Ehejahren eine ADHS Diagnose erhielt.

Uns verbanden typische Schnittpunkte von Menschen mit ADHS und Hochsensibilität:  eine besondere Kreativität, Ideenreichtum, eine intensive Gefühlswelt, Gespräche mit Tiefgang, das Gefühl sich „anders in dieser Welt zu fühlen“, spirituelles Interesse, Querdenkertum und ein gesundes Maß an Verrücktheit.

Dass sich Hochsensible und Personen mit ADHS partnerschaftlich finden, ist daher keine Seltenheit.

In meiner Ehe prallten allerdings schnell gegensätzliche Welten aufeinander. Hinzu kamen drei energiegeladene Jungs, die, wie sie über sich selbst sagen, einen „Ameisenhaufen im Kopf“ und „Hummeln am ganzen Körper“ tragen. Bald bestätigte sich mein Verdacht, dass sie das ADHS ihres Vaters geerbt hatten.

Mit jedem Kind mehr wuchsen die Herausforderungen. Aber auch meine inneren Bewältigungsstrategien erweiterten sich (notgedrungen):

Herausforderung 1: Akustische Reizüberflutung und auditive Sensibilität

  • Der unbändige, unstrukturierte und nicht zu bremsende Redeschwall der Familienmitglieder mit ADHS, welcher an Logorrhö grenzt, sprengt oft meine Aufnahmefähigkeit und macht mich sprichwörtlich „wahnsinnig“. Mein jüngster Sohn schafft es z.B. nicht einmal zwei Minuten beim Zähneputzen auf seinen Wortschwall zu verzichten. Von morgens bis abends sprudelt ein Wasserfall an Wörtern aus dem Fünfjährigen heraus.
  • Der ständige Lautstärkepegel überfordert mich. Meine Kinder sind aufgrund ihres ADHS meist nicht in der Lage, in angemessener Lautstärke zu kommunizieren. In ihrer Geschwisterkonkurrenz müssen sie sich stets Gehör verschaffen und in Wortmenge und Akustik gegenseitig übertrumpfen.
  • Zudem lieben sowohl mein damaliger Mann, als auch meine Kinder laute Musik um sechs Uhr morgens. Sie sind ununterbrochen dabei, „Stimming“ zu betreiben. Das heißt, sie erzeugen Geräusche aller Art: Brummen, Summen, Singen, Pfeifen, Klappern mit Gegenständen, Reden um zu reden. Sie verhalten sich so, da sie aufgrund des ADHS und den damit verbundenen Dopamin-Mangel, nicht nur schnell in die Übererregung, sondern auch in die Untererregung rutschen. Diese äußert sich in gähnender Langeweile. Die Geräusche erzeugen Reize, um sich wieder optimal zu stimulieren.

Das hat uns geholfen:

  • Obwohl ich Verständnis für ihre Besonderheit aufbringe, achte ich auch auf meine Grenzen als Hochsensible. Mittlerweile gebe ich meinen Kindern sehr klar zu verstehen: „Mama braucht jetzt ein paar Minuten Ruhe. Ich möchte nun keine Fragen oder Gespräche mehr.“ „Es redet immer nur einer.“ „Zum Trommeln kannst du auf dein Zimmer gehen.“ Die jeweilige „Leisekerze“ brennt am Esstisch nur so lange, wie das Kind ruhig und im Flüsterton sprechen kann. Jedes Kind muss seine „Leisekerze“ sozusagen durch angemessenes Verhalten „bewachen“. Diese extrinsische Motivation bewirkte schon so einige Wunder.
  • Zudem stelle ich einen großen sichtbaren Timer für 15 Minuten auf „Mama-Zeit“. Dies ist die tägliche Auszeit für mich, in der mich keines der Kinder stören darf. Sie können jederzeit auf dem Timer ablesen, wie lange die Zeit noch dauert. Wenn sie es geschafft haben, bekommen sie eine kleine Belohnung, z. B. einen Keks oder Milchschaum.
  • Meine Kopfhörer sind immer griffbereit, egal ob ich in der Küche Essen vorbereite oder die Kinder ins Bett bringe. Ich höre auch durch die Kopfhörer alles, was ich hören muss, jedoch mit reduzierten Dezibel.
Erfahrungen einer hochsensiblen Mutter mit drei ADHS-Kindern, 2 Jungs beim Lesen

Herausforderung 2: Chaos im Kopf und Strukturbedürfnis

Meine Kinder sind durch ihr ADHS unglaublich schnell von Alltagstätigkeiten, wie z. B. Essen, sich anziehen, oder Hausaufgaben machen, abgelenkt. Sie bringen ihre Aufgaben selten zu Ende. Ihr Ideenreichtum führt dazu, dass sie schnell Dinge initiieren (z. B. ein Bastelprojekt, weil ihnen das gerade in den Sinn kommt), jedoch nicht beenden (v. a. wenn diese Tätigkeit, wie z. B. das Aufräumen, unbeliebt und routiniert sind).

Das hat uns geholfen:

  • Ich achte darauf, eine möglichst reizarme Umgebung zu gestalten, welche Ablenkung von Anfang an reduziert. Das heißt, dass nichts am Esstisch steht, außer dem Essen, oder dass nichts am Schreibtisch liegt, außer den Hausaufgaben.
  • Belohnungssysteme, in der modernen Pädagogik umstritten, funktionieren bei Kindern mit ADHS dennoch besonders gut. Auch meine Jungs fühlen sich dadurch motiviert, Aufgaben abzuschließen. Eine unserer Regeln ist, dass sie keine neue Tätigkeit beginnen, bevor sie die alte nicht abgeschlossen haben. Die Erinnerung dazu formuliere ich nicht als Androhung, sondern als logische Schlussfolgerung, wie z .B.: „Du kannst sofort zum Fußballspielen nach draußen gehen, sobald du den Maltisch aufgeräumt hast.“
  • Zudem haben wir feste Rituale und Pläne, welche die Kinder in Alltagstätigkeiten einbinden. z. B. einen Wochenplan, bei dem jeder eine Woche lang eine feste Haushaltsaufgabe übernimmt. Die Aufgaben wechseln aber auch, denn Abwechslung und Neuheit sind Motivatoren für das ADHS-Gehirn. Jede Woche dürfen die Kinder durch Selbst- und Fremdreflexion einschätzen, wie zuverlässig sie ihre Aufgabe erledigt haben. Diese festen Strukturen schenken ihnen Orientierung und Sicherheit.

Herausforderung 3: Hohe Aggressionsbereitschaft und Harmoniebedürfnis

Typisch für Personen mit ADHS ist eine gewisse Impulsivität. Diese äußerte sich bei meinen Kindern durch emotionale Ausraster. Wenn sie sich bei scheinbaren Kleinigkeiten unverstanden, geärgert oder ausgeschlossen fühlen, führt dies auch schnell zu aggressiven Ausbrüchen. Sie leben ganz im Moment, überwältigt von ihren Gefühlen, welche sie nicht kontrollieren können.

Geschwisterstreitigkeiten werden dann häufig auch körperlich ausgetragen, ohne über die langfristigen Auswirkungen nachzudenken. Daher hatten wir schon so manche Verletzung, die auch zu Krankenhausaufenthalten führten. 

  • Da die emotionale Selbstregulationskompetenz sowie Frustrationstoleranz bei Kindern mit ADHS mangelhaft ausgebildet ist, benötigen sie umso mehr Coregulation durch ihre Bezugsperson(en). Diese können dem Kind helfen, ihr gestresstes Nervensystem z. B. durch Körperkontakt (Umarmung, körperliche Begrenzung, sofern das Kind dies zulässt) zu regulieren. Kinder brauchen noch Unterstützung, ihr System vom Sympathikus (Stressaktivierung) in den Parasympathikus (Entspannungsmodus) zu wechseln.
  • Meine Kinder werden nicht nur ermahnt, wenn sie streiten. Bei Kindern mit ADHS gerät man in der Erziehung oft in einen Teufelskreislauf von negativer Aufmerksamkeit und Ermahnung. Dies belastet nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung, sondern zerstört auch langfristig das Selbstwertgefühl des Heranwachsenden. Erwachsene mit ADHS leiden daher oft unter Minderwertigkeitskomplexen und Kritikdysphorie. Umso wichtiger ist es, verhaltensauffällige Kinder auch zu bestätigen. Meine Kinder erhalten z. B. Lob, wenn sie für eine gewisse Zeit harmonisch miteinander spielen oder eine Auseinandersetzung friedlich lösen. „Ertappe dein Kind dabei, Gutes zu tun!“ lautet meine pädagogische Devise.  
  • Durch meine hochsensible Fähigkeit, Atmosphären zu scannen, kann ich relativ früh eingreifen, schon bevor eine Situation eskaliert. Ich spüre, wenn sich etwas zusammenbraut. Daher intervenierte ich bereits bei kleinen Unstimmigkeiten und beuge damit größeren Dramen vor.

Herausforderung 4: Motorischer Bewegungsdrang und Ruhebedürftigkeit

Meine Kinder bewegen sich pausenlos. Selbst wenn sie am Esstisch oder bei den Hausaufgaben sitzen, wippt ein Fuß, kippelt der Stuhl, sind die Hände überall, und schnappen sie sich alles, was in der Nähe liegt.  Manchmal liegt ein Kind auch plötzlich unter dem Tisch, fällt vom Stuhl oder turnt darauf herum. Das Wohnzimmer wird zum Gymnastikraum und der Flur (zum Leidwesen mancher Lampen) zum Fußballfeld.

Diese Beschreibung passt auf alle Kinder irgendwie und irgendwann. Doch bei Kindern mit ADHS handelt es sich bei dem täglichen Wahnsinn um den „Normalzustand“.

Das hat uns geholfen:

  • Ich versuche klare Regeln zu formulieren, was im Haus erlaubt ist (z. B. nicht mit harten Ball im Haus spielen) und was nicht, acht aber auch darauf, nicht alles zu verbieten. „Sag den Kindern, WAS möglich ist, nicht was nicht, möglich ist.“ Diesen Satz trage ich im Hinterkopf. Wie so oft geht es um ein gesundes Mittelmaß und darum, Grenzen zu setzen und gleichzeitig Möglichkeiten aufzuzeigen.
  • Alle meine drei Kinder sind sportlich sehr aktiv und spielen mehrmals wöchentlich Fußball im Verein. Auch unsere Freizeitgestaltung fällt meist sportlich aus. Wir gehen gemeinsam Radfahren, Langlaufen, Joggen, Eislaufen, Wandern usw. Zudem verbringe ich viel Zeit mit ihnen in der Natur: im Wald, am Fluss, im Garten, am See. Hier können sie ihre überschüssige Energie im positiven Sinne kanalisieren. Auch Regen hält meine Kinder gewöhnlich nicht im Haus. Sind sie allzu „aufgedreht“, lasse ich sie auch mal eine Runde um den Block laufen. Forschungen zu ADHS deuten darauf hin, dass Sport eine ähnliche Wirkung auf die Konzentration zeigt, wie eine Medikation.
Erfahrungen einer hochsensiblen Mutter mit drei ADHS-Kindern, Junge Profilbild

Dankbarkeit für das, was ist:

Das Leben mit Kindern bleibt besonders für Hochsensible eine Herausforderung, dies gilt umso mehr für Kinder, welche ADHS haben und damit ganz herausragende Eigenschaften mitbringen.

Die Bedürfnisse von Personen mit ADHS und Hochsensibilität verlaufen, wie oben dargestellt oft sehr konträr.

Auch mit meinem (Ex-)Mann, welcher ADHS hat, bin ich heute nicht mehr zusammen. Dennoch durfte ich durch den Alltag mit vier ADHS-Menschen viel lernen, dass ich:

  • als hochsensibles Wesen mehr schaffe, als ich denke.
  • ich nicht egoistisch bin, wenn ich auf meine Grenzen und damit auf Selbstfürsorge achte.
  • auch mit meiner Hochsensibilität leistungsfähig bin und meine gedachten Grenzen erweitern kann.
  • mit meinen Herausforderungen wachse.
  • Hilfe suchen, annehmen und Begrenztheit eingestehen darf.
  • vieles gelassener und manchmal mit einer Portion Humor sehen kann.

Trotz vieler frustrierender Situationen möchte ich das Leben mit meinen drei verrückten und lebhaften „Michel von Lönneberga-Kindern“ nicht missen. Sie bohrten mit der elektrischen Zahnbürste Mauselöcher in die Wand, veranstalteten eine Wasserschlacht im Kinderzimmer, wickelten Klopapier als „Autobahnen für Matchboxautos“ durchs ganze Haus und pusteten vor lauter Lachen den Joghurt in alle Richtungen.

Ich liebe meine Kinder, so wie sie sind: einzigartig, kreativ, außergewöhnlich, neurodivers und etwas anders.

Auch wenn ich mich oft auf eine einsame Insel wünsche, weil sie mich an meine Grenzen bringen, würde ich keines von ihnen eintauschen wollen! Diese Jungs machen mein Leben spontan, abwechslungsreich, lebendig und bunt. All das würde ich ohne sie sehr vermissen. Ich würde sie vermissen.

Denn sie gehören zu mir, wie meine Hochsensibilität!

Sandra Hüttenrauch, Psychologische Beraterin, Coach für Hochsensible, www.lebenskunst-huettenrauch.de, Netzwerkmitglied für 83313 Siegsdorf (D)


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